Ich wünsche Ihnen einen guten Mittag, Herr Tauber, denn angesichts Ihrer auf Twitter getroffenen Aussage dürfte Ihr Morgen vermutlich nicht der allerbeste gewesen sein. Zumindest sind die Reaktionen auf Ihre Worte recht eindeutig: viele Menschen in Deutschland stimmen Ihrer Aussage ganz offensichtlich nicht zu.
Nachdem ich damit fertig war, diesen Morgen mit einer Runde im Kreis rennen und schreien zu beginnen, möchte ich Sie dazu einladen, eine kleine virtuelle Reise mit mir zu unternehmen. Eine echte Reise kann ich mir leider nicht leisten, da ich, fürchte ich, nie etwas "Ordentliches" gelernt habe.
Aber ich hoffe, Sie begleiten mich dennoch eine Weile.
Die so oft dieser Tage beschworene deutsche Durchschnittsfamilie mit Vater, Mutter und zwei Kindern beginnt ihren Tag schon sehr früh. Die Kids müssen zur Schule, die Eltern zur Arbeit. Da die wenigsten Familien sich heutzutage beim Wohnen nahe oder in Ballungszentren noch zwei Autos leisten können, ohne auf Leasing und sonstige Kreditverträge zu gehen, nimmt Papa den Bus und Zug zur Arbeit, die Kinder fahren mit dem Bus zur Schule und Mama nutzt das Auto, da sie sonst einen Arbeitsweg von über zwei Stunden pro Strecke zu ihrem Job hätte, weil die Taktung der Öffis zu ungünstig ist.
Schon an diesem Abschnitt des Tages begegnen wir Busfahrern, Zugführern, Fahrkartenkontrolleuren und einer riesigen Menge Pendler, die zumeist für ihre Jobs eine Ausbildung, wenn nicht sogar ein Studium haben hinlegen müssen.
Das nette Mädel, welches Papa seinen To-Go-Kaffee am Hauptbahnhof verkauft, ist eine Studentin, die sich ihr Studium ohne Bafög finanzieren muss und morgens in der Kaffeebude und Abends in einer Kneipe jobbt, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Der Fahrkartenkontrolleur im Bus der Kinder ist ein Zeitarbeiter, der eigentlich mal Sozialpädagogik studiert und da auch einen Abschluss gemacht hat, aber inzwischen diese Arbeit macht, damit er überhaupt Arbeit hat - was von seinem Verdienst übrig bleibt, hängt irgendwo im Mindestlohnbereich, da die Zeitarbeitsfirma schließlich auch die Hand aufhält. Ja, früher hat dieser Fahrkartenkontrolleur in einem Jugendzentrum gearbeitet, aber da die Mittel für die Sozialförderung innerhalb der Stadt zusammengestrichen wurden, fiel auch seine Stelle weg. Irgendwas muss der Mensch ja arbeiten.
Die Kids in der Schule treffen auf ihre Mitschüler und quälen sich durch einen Vormittag voller nerviger Fächer. Jene Lehrer, welche versuchen, ihnen wichtige Dinge fürs Leben beizubringen, arbeiten nicht etwa als Beamte, sondern haben schlecht bezahlte Jahresverträge, ohne planen zu können, ob sie im kommenden Jahr noch immer bei der Schule angestellt sind - junger Lehrernachwuchs muss heutzutage eben flexibel sein und sich an die vorhandenen Möglichkeiten anpassen!
Papa erreicht seine Arbeitsstelle als Call-Center-Agent und begrüßt einige neue Kollegen, die ihre ersten Erfahrungen im Job machen werden. Klar, man verdient im Call-Center nicht wirklich viel und Papa wird am Ende des Monats mit einem bitteren Klumpen Wut auf seine Abrechnung starren, die irgendwo bei 1200€ liegt - Wut nicht nur, weil er sich acht Stunden am Tag den Unmut anderer Menschen 'reinziehen und dabei freundlich reagieren musste.
Sondern auch, weil er genau weiß, dass von diesem Geld zwei Drittel alleine für die Miete draufgehen und der Rest für die Nebenkosten. Früher hat er mal bei einem Automobilfabrikanten am Fließband gearbeitet, war stolz auf seinen Männerberuf, für den er seine Ausbildung gemacht hat. Heute erledigt seinen Job ein Roboter, aber von irgendwas muss die Familie schließlich leben. Dabei hilft auch, dass Papa am Wochenende das Wochenblatt austrägt, so bleibt er nach der Woche am Schreibtisch fit und kann sich zudem noch bewegen. Man sollte in allem das Positive sehen, nicht wahr?
Mama parkt ihr Auto vor dem Seniorenstift, in welchem sie als Altenpflegerin arbeitet. Sie reibt sich den schmerzenden Rücken, denn das dauernde Heben, Tragen und Bewegen der Klienten ist körperliche Schwerstarbeit, die nach einigen Jahren schwer auf die Substanz geht. Dennoch liebt sie es, wenn sie den alten Damen und Herren mit ihrer freundlichen Art ein Lächeln entlocken kann, deswegen nimmt sie alle Bedingungen, die mit der Arbeit einher gehen, ebenfalls in Kauf.
Beispielsweise, dass ihre Station chronisch unterbesetzt ist, weil für das Gehalt eines Altenpflegers immer weniger Menschen die damit verbundene harte und manchmal auch schmutzige Arbeit verrichten wollen. Weil körperliche Schäden so manche Kollegin und so manchen Kollegen frühzeitig aus der Erwerbstätigkeit herausgenommen hat. Aber wenigstens weiss Mama, dass sie etwas sinnvolles tut, ihr Gehalt die Familie ernährt und dafür sorgt, dass die Kinder gut aufwachsen.
Die Kids hauen sich nachmittags heimlich von ihrem wenigen Taschengeld für einen Euro einen Burger beim goldenen M 'rein, um ein bisschen mit ihren Freunden abzuhängen und an einem Ort, an dem Essen und Getränke nicht viel kosten, Zeit zu verbringen. Der Mann an der Kasse ist ein Teenager in ihrem Alter, der für seine Familie, da Mama alleinerziehend ist und bereits zwei Jobs hat, etwas dazuverdient - dass er von den Kids, die Kunden sind, dafür gehänselt wird, dass er sie bedienen muss, schluckt er mit geübter Gelassenheit herunter. Immerhin geht es um seine Familie und er ist stolz darauf, dass er seine Mutter ein bisschen entlasten kann.
Der Burgerbrater in der Küche hat seinen Abschluss in Grafikdesign gemacht und arbeitet nebenbei dort, um sich sein unbezahltes Praktikum leisten zu können. Das braucht er dringend, um irgendwann vielleicht mal einen Job zu finden, weil brauchbar bezahlte Stellen viel Berufspraxis voraussetzen.
Mama erledigt nach ihrer Schicht, da sie das Auto hat, auch noch den Einkauf. Im Supermarkt begegnen ihr viele bekannte Gesichter, da einige ihrer Nachbarinnen dort entweder auf 450€-Basis als Regalauffüllerinnen oder regulär als Verkäuferinnen arbeiten. Man kennt sich schon seit Jahren, teilt ab und an auch ein Schwätzchen, wenn tatsächlich einmal die Zeit dazu bleibt. Heute jedoch hat es Mama eilig, da eine Kollegin krank geworden ist und sie eine Überstunde einschieben musste, sodass ihr straffer Zeitplan aus dem Gefüge geraten ist. Sie bemerkt nicht das traurige Gesicht der Kassiererin, welche die Kündigung erhalten hat, da die Supermarktkette aus betriebswirtschaftlichen Gründen Stellen rationieren muss und sie diejenige ist, welche die schlechteste Position im Sozialplan des Unternehmens hat.
Zuhause kommt die Familie nach einem langen Tag endlich wieder zusammen. Gerne würden die Eltern mal wieder ausgehen, in ein wirklich schickes Restaurant - eines, wo sie bereits an der Tür freundlich empfangen werden und der Kellner auf der Weinkarte eine treffende Empfehlung zum gewählten Essen machen kann, da er als Sommelier ausgebildet wurde und was von Weinen versteht. Doch trotz zweier Gehälter und Nebenjob bleibt für so etwas immer weniger übrig.
Dass der weinsinnige Sommelier für gerade mal einen freien Tag in der Woche und Arbeitsschichten, in denen er viel stehen und sich bewegen muss, nicht wirklich viel besser verdient als Papa, wissen beide nicht. Dass die Friseurin, bei der sich Mama vom mühsam beiseite gelegten Geld alle vier Monate die Haare machen lässt, noch weniger auf dem Lohnzettel stehen hat, ebenfalls nicht. Man kann schließlich nicht von jedem anderen wissen, mit was er über die Runden kommen muss.
Herr Tauber, ich weiss nicht, ob Sie in Ihrem Leben jemals einen Karriereknick hinnehmen mussten, einen Job wegen Rezession, äußeren Umständen oder einfach mal Pech verloren haben oder wissen, wie es ist, vor einem nicht sonderlich empathischen ARGE-Mitarbeiter zu sitzen, dem es egal ist, was aus der Person vor seinem Schreibtisch wird und jeden Cent des Staates so bitter verteidigt, als müsste er ihn aus eigener Tasche bezahlen.
Ich weiß auch nicht, ob Sie jemals wirklich Hunger hatten oder jeden Cent viermal umdrehen mussten, um dann festzustellen, dass es hinten und vorne nicht zum Überleben reicht. Ob Sie wissen, wie es sich anfühlt, wenn man sowohl körperlich als auch seelisch erschöpft ist, weil man trotz größter Anstregung nicht mehr weiterkommt. Aber es könnte nicht schaden, würden Sie versuchen, sich in eine solche Lage hineinzudenken.
Heutzutage haben die wenigsten Menschen eine geradlinige Historie. Nicht sonderlich viele verdienen einen ihrer Tätigkeit angemessenen Lohn und können sorgenfrei oder planungssicher in die Zukunft blicken. Wie wäre es, wenn Sie sich anstelle solcher Kommentare einmal darum bemühen würden, an den echten Problemen dieser Zeit etwas zu ändern?
Die Geschichte lehrt, was aus Menschen in entscheidungsträchtigen Positionen wird, die dauerhaft ihre Augen vor der Not und den Schwierigkeiten der Massen verschließen. Ich bin mir sicher, dass ein studierter Historiker derartiges nicht erst nachschlagen muss.
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Zitat Quelle: https://twitter.com/petertauber/status/881966006138220544